Sonnabend, 29. November 1975
Braunschweiger Zeitung
Seite 11
Bundesbahnausbesserungswerk: „Deutschlands größter Schlachthof“
Die Entscheidung des Landes Niedersachsen, seinen Widerstand gegen die Auflösung des Bundesbahnausbesserungswerkes aufzugeben, hat bei den Beschäftigten des Werkes tiefe Betroffenheit ausgelöst. Bis zum Schluß hatten sie gehofft. Das Signal aus Hannover machte am Freitag eine Sitzung des Bundesbahn-Verwaltungsrates überflüssig, die mit Spannung erwartet worden war. Bittere Reaktionen, als die BZ gegen Mittag das Betriebsgelände besuchte. Hans Gahren, Vorsitzender und Sprecher der Arbeitergruppe im Personalrat: „Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt.“ Beim Rundgang wurde das Werk als „größter Schlachthof Deutschlands“ vorgestellt.
In und außerhalb der Lok-Halle hantieren hochqualifizierte Schlosser nur noch mit dem Schneidbrenner. Berge von schartigen Wrackteilen liegen herum. Nur drei Dampfloks werden zur Zeit repariert, davon gehören zwei der „Gesellschaft der Eisenbahnfreunde“. Die Zahl der Unfälle ist stark gestiegen, seit nur noch verschrottet wird. Werksdirektor Dietrich Brauer: „Glühende Eisenstücke rutschen manchmal in Schuhe und Handschuhe hinein.“
Die Auflösung trifft 310 Arbeiter, 54 Beamte, 80 Lehrlinge, drei Junggehilfen und vier Praktikanten. Dazu kommen noch 50 Arbeiter, die zur Zeit als Sicherungsposten zur Elektrifizierung im Braunschweiger Gebiet abgeordnet sind. Diese Arbeiter werden nach Abschluss der Elektrifizierung, voraussichtlich im Mai nächsten Jahres, zurückkehren. Weitere 26 Arbeiter sind bereits zum Ausbesserungswerk in Hannover delegiert worden, 54 Beschäftigte des Braunschweiger Werkes sind bei diesen und jenen Dienststellen im Braunschweiger Gebiet eingesetzt.
Was wird nach der Auflösung? Zahlen kursieren, 195 sollen im Ausbesserungswerk Hannover unterkommen. Keiner der am Freitag von der BZ Befragten möchte dorthin. Dieter Lorenz, stellvertretender Personalratsvorsitzender: „Für die meisten ist der Weg nach Hannover unzumutbar.“ Das gilt vor allem für die, die auf dem Lande Familie und Haus haben. Der Anteil der Werksbeschäftigten, die ein Eigenheim besitzen, beträgt 35 Prozent. Diese Häuser können nur mit der Mitarbeit der Ehefrauen finanziert werden.
Die Arbeiter wollen nicht plötzlich etwas verkaufen, für das sie mit Fleiß gespart haben. Auch die anderen Bindungen wiegen jetzt, da jeder einzelne sich entscheiden muß, zentnerschwer.
Warten was wird. Max Schirmer (links) und Horst Frey sind seit 30 Jahren dabei. Nun müssen sie um ihre berufliche Existenz kämpfen. Die Hoffnungen gelten den noch auszuhandelnden Sozialplänen. Doch wer als entlassener VW-Arbeiter vor einem Jahr glaubte, bei der Bahn gut aufgehoben zu sein, hat sich geirrt. Er wird bei der Auflösung nicht durch den Sozialplan gestützt, wenn er weniger als zwei Jahre bei der Bahn ist.
(C) BZ
Für die von der Auflösung Betroffenen ist in der jetzigen Situation die Losung „Der Eisenbahner muß flexibler werden“ wenig hilfreich. 120 Kollegen sind allein über 50 Jahre alt, sie haben zum großen Teil das im Kriege völlig zerstörte Werk wieder mit aufgebaut.
Zur „Unzumutbarkeit“ zählen die Beschäftigten auch die tägliche Fahrt nach Hannover. Der Bus fährt morgens um 5:15 Uhr in Braunschweig ab, ein Termin, der von den außerhalb Braunschweigs Wohnenden mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erreicht werden kann. Wer den Bus schafft, ist zwei bis vier Stunden länger von der Familie weg.
Es bleibt die Frage, wie lange noch das Braunschweiger Werk als Not-Zweigbetrieb existieren kann. Nach den offiziellen Plänen soll Ende 1976 die letzte Dampflok „eingemottet“ werden. Hans Garen meint, man hätte das moderne Werk in Braunschweig gut auf die Reparatur von modernen Loks umstellen können. Doch die Vorschläge und Proteste des Personalrats zählen nicht mehr. Damals, 1968, habe man sich, wie Garen sagt, mit Hilfe des Bundestagsabgeordneten Walter Schmidt noch einmal erfolgreich gegen die Auflösung wehren können.
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